Ein Schwerpunkt der Akademie: Neue Wege zur Heilpflanzen-Erkenntnis
Ein völlig neues Anwendungsfeld der goetheanistischen Vegetationskunde ist die Medizin. Die Akademie verhilft auf Grundlage ihres wissenschaftlichen Konzeptes zu einem neuen Verständnis der Heilpflanzen, indem deren Stellung in der Landschaft, am Standort und in der Pflanzengesellschaft betrachtet wird. Von diesem „Makrokosmos“ Landschaft kann die Brücke geschlagen werden zum Mikrokosmos Mensch. Nicht nur das traditionelle Heilpflanzen-Wissen erscheint dadurch in einem neuen Licht, sondern es können methodische Ansätze für die Entdeckung ganz neuer Heilpflanzen entwickelt werden.
Werden Heilpflanzen eingenommen, finden die von ihnen mitgebrachten Heilkräfte ganz selbstverständlich die Orte und Prozesse im Organismus, wo sie gebraucht werden. So hat jede Pflanze ihre besondere Beziehung zu Organen, Organsystemen und Krankheiten.
Viele dieser Heilpflanzen sind heimische Wildpflanzen, die an ganz bestimmten Stellen in unseren mitteleuropäischen Landschaften wachsen. Sucht man hier in der Landschaft nach einem übergreifenden Ordnungsprinzip der Pflanzenwelt, liegt zunächst die Einteilung in Familien usw. nahe. Es verhält sich jedoch nicht so, dass z.B. alle Korbblütler für ein bestimmtes menschliches Organ wirksam sind und die Kreuzblütler für ein anderes … Schaut man nur auf die Familienzugehörigkeit, ist auf den ersten Blick keine eindeutige Zuordnung zur Heilwirkung der Pflanzen zu finden.
Es muss also ein anderes Ordnungsprinzip geben, das mit den Pflanzenfamilien nichts oder nur wenig zu tun hat. Ist es der Standort, also der ökologische Umkreis der Pflanze? In dieser Richtung wurde schon viel Wesentliches erarbeitet, insbesondere durch die anthroposophische Heilmittelforschung (vgl. Pelikan 1958, 1962, 1977, Simonis 2001, Goedings 1996, Schürholz & Bopp 2009, Schramm 2009; siehe auch Grohmann 1959, 1968). Aber es blieben viele Fragen unbeantwortet; zudem fehlte ein wirklich gutes und stringentes Ordnungsprinzip wie etwa das des menschlichen Organismus – diesmal jedoch auf Landschaftsebene.
Gibt es in der Landschaft etwas, das dem menschlichen Organismus adäquat ist? Eine Art Landschaftsorganismus? Nach Rudolf Steiner eindeutig ja, denn in der Anthroposophie wird die uns umgebende Natur als umgestülpter oder nach außen ausgebreiteter Mensch gesehen. Zu einem Verständnis dieses Zusammenhanges hilft uns der Ansatz der Dreigliederung. Die Dreigliederung wurde von Steiner zunächst für das Seelenleben beschrieben, in den drei Qualitäten von Denken, Fühlen und Wollen, welche aber auch eine körperliche Entsprechung haben: Das Denken im Kopfbereich, das Fühlen im Brustbereich und das Wollen in der Bauchregion. Daraus folgte die Gliederung des menschlichen Organismus in die drei Organsysteme: Nerven-Sinnes-Organisation, rhythmische Organisation und Stoffwechsel-Gliedmaßen-Organisation.
Das Erstaunliche dieser Entdeckung war: Die Dreigliederung gilt für alle lebendigen Organismen! Außerdem konnten anthroposophische Naturwissenschaftler zeigen, dass der dreigliedrige Organismusbegriff im Prinzip auf alle Lebenseinheiten anwendbar ist – auch auf Landschaften! So konnten inzwischen großartige Landschaftsbeschreibungen auf der Grundlage der Dreigliederung gemacht werden, beispielsweise von Suchantke für Afrika (1992) und Südamerika (1982), von Schad (1982) für die mitteleuropäischen Moore, von Marti (1989) für die Camargue und von Leuthold (1998) für das Aletschgletscher-Gebiet.
Diese Darstellungen haben eines gemeinsam: Es handelt sich um natürliche oder sehr naturnahe Landschaften, die vom Menschen noch nicht nachhaltig beeinflusst wurden. Es ist durchaus vorstellbar, dass solche urwüchsigen Landschaften gewissermaßen Groß-Organismen sind. Sehen wir uns aber heute in unseren heimischen, mitteleuropäischen Landschaften um, finden wir kaum noch Natur-, sondern fast nur Kulturlandschaft. Hat der Mensch die natürlichen Landschafts-Organismen, wie sie Schad (1982) mit den Mooren und Wäldern beschreibt, nachhaltig zerstört? Es stimmt – diese „alte“ Naturlandschaft wurde zerstört, aber dafür entstand etwas Neues, nämlich die reichgegliederte Kulturlandschaft, die in ihrer traditionellen Form bis ins 19. Jahrhundert die biologische Vielfalt Mitteleuropas sogar noch erhöht hat.
Dass auch die vom Menschen hervorgebrachten Landschaften den Charakter von Organismen haben, konnten Klett (1985) und Vahle (1998) zeigen. Dieser Punkt ist sehr wichtig für das Verständnis unserer Heilpflanzen, da sie überwiegend in den Biotopen der Kulturlandschaften wachsen: in blumenbunten Wiesen, an den Rändern ungespritzter Äcker, in Magerasen und Heiden, in Heckensäumen usw. Der ordnende Faktor dieser Vielfalt war früher der Mensch mit seiner traditionellen Landbewirtschaftung; er brachte den Kulturlandschafts-Organismus hervor. Auf diesen kann die Heilpflanze genauso bezogen werden wie auf den menschlichen Organismus, so dass wir eine Entsprechung zwischen Mikrokosmos Mensch und Makrokosmos Landschaft haben.
Wie ist es möglich, im Einzelnen, an einem beliebigen Wuchsort mit einer beliebigen Pflanze, diesen Zusammenhang aufzufinden? Ist die Landschaft nicht ein einziges „Durcheinander“ und kann ihr Organismus-Charakter vielleicht eher ganzheitlich gefühlt, aber nicht vorstellungsmäßig klar erfasst werden? Hier kommt die Pflanzensoziologie ins Spiel, eine bislang noch recht unbekannte Teilwissenschaft der Botanik.
Tatsächlich stehen die Pflanzen draußen in der Landschaft nicht „irgendwo durcheinander“, sondern in ganz bestimmten Pflanzengesellschaften. Durch die Pflanzensoziologie wurden Kombinationen von Pflanzenarten gefunden, die an bestimmten Standorten immer wieder ähnlich auftreten. Damit wissen wir: Jene Heilpflanze wächst in den und den Pflanzengesellschaften an der und der Stelle im Kulturlandschafts-Organismus. Auf diese Weise kann eine Korrespondenz zwischen dem Wuchsort in der Landschaft und dem Ort ihrer Heilwirkung im Menschen gefunden werden.
Ein weiterführender Weg entsteht, wenn man die goetheanistische Methode auf die Pflanzensoziologie anwendet. Dabei werden Pflanzengesellschaften nicht vorwiegend analytisch hinsichtlich ihrer Artenkombinationen betrachtet, sondern ganzheitlich nach ihrer Gestalt – und dem, was anhand dieser Gestalten von den Standortkräften zu lesen ist. So kann erarbeitet werden, wie die Heilpflanze in das Kräftefeld der Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde eingespannt ist, bei welcher Elementwirkung sie Schwerpunkte hat und welche Elemente sie wiederum selber beeinflusst. Damit eröffnen sich ganz neue Welten des Wahrnehmens und Erkennens – und die Heilpflanzen erscheinen ebenfalls in einem neuen Licht. Es gibt nicht nur die Korrespondenz zwischen den Orten im Organismus und denen der Landschaft, sondern es zeigen sich auch prozessuale Übereinstimmungen: In der Landschaft steht die Pflanze in einem Prozess, der im menschlichen Organismus ebenfalls zu finden ist – und hier ist der Ort und der Prozess ihrer Heilwirkung.
Beispiel Fingerhut
Der Rote Fingerhut (Digitalis purpurea) ist als Heilpflanze längst bekannt und es ist sehr lehrreich, sich dessen Wirkung noch einmal ganz anders, nämlich nach der goetheanistisch-pflanzensoziologischen Methode, vor Augen zu führen, um die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes zu verdeutlichen.
Der Fingerhut wurde als ein ausgezeichnetes Beispiel bereits von Christian Schikarski (1995) dargestellt: Er fand diese Pflanze im Öko-Organismus der Landschaft genau an den Standorten, die durch ihre Prozesse und die besondere Komposition der vier Elemente eine Analogie zur Herzinsuffizienz bilden – wofür die Pflanze tatsächlich therapeutisch wirksam ist. Die klassischen vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer sind sowohl im gesunden menschlichen Organismus als auch im gesunden Wald in einer ganz bestimmten Weise miteinander komponiert. Wird der Wald an einer Stelle kahl geschlagen oder bricht der Sturm eine Lichtung hinein, wird der Öko-Organismus gravierend gestört. Das Merkwürdige und Interessante dabei ist, dass sich die Art und Weise, wie sich beim Kahlschlag die Komposition der vier Elemente in „krankhafter Weise“ ändert, recht genau den pathologischen Änderungen bei der Herzinsuffizienz entspricht. Und genau dort, wo in der Landschaft die Phänomene der „Herzinsuffizienz“ auftreten, wächst der Rote Fingerhut und leitet als eine der ersten Pionierpflanzen die „Heilung“ des Öko-Organismus ein.
Beispiel Armleuchteralge
In diesem Beispiel geht es darum, mit der goetheanistisch-pflanzensoziologischen Methode auch neue, bisher unbekannte Heilpflanzen zu finden. Wenn das funktioniert, hat man wirklich ein sehr brauchbares Instrumentarium in der Hand. So folgt hier als Beispiel die Darstellung einer Heilpflanze, die über einen kleinen Kreis spezieller Botaniker hinaus kaum jemand kennt und die als Heilpflanze bis vor kurzem noch gänzlich unbekannt war.
Es handelt sich um die Armleuchteralge Chara intermedia. Armleuchteralgen wachsen nur in sehr klarem, sauberem Wasser – oder aber sie klären es aktiv, falls es trübe ist. Diese Pflanzen sind ziemliche „Sonderlinge“ unter den Wasserpflanzen. Sie bleiben gerne unter sich und wachsen entweder in großen Wassertiefen (bis 60 m Tiefe!), wohin ihnen keine andere Wasserpflanze folgen kann, oder aber sie besiedeln neu entstandene Flachgewässer, bevor andere Pflanzen hier Fuß fassen (ausführliche Beschreibungen bei Vahle 2007 a). Diese Pionierleistung hängt zusammen mit dem Schwefelprozess, der alle Lebensäußerungen der Armleuchteralgen durchzieht und der nach der alten alchemistischen Lehre mit dem Feuer-Element zusammenhängt. Es ergibt sich hieraus ein sehr eigenartiges und einmaliges Lebensbild dieser Pflanzengruppe, das auf folgende Weise charakterisiert werden kann: Armleuchteralgen sind Feuerpflanzen unter Wasser.
Parallel zu dieser goetheanistischen Erforschung der Chara-Geheimnisse führte die Münchener Ärztin Heidi Brand mit der Chara intermedia eine homöopathische Heilmittelprüfung durch, wobei beide, Heidi Brand mit der Heilmittelprüfung und Hans-Christoph Vahle mit der goetheanistisch-pflanzensoziologischen Forschung lange Zeit nichts voneinander wussten und völlig unabhängig voneinander arbeiteten. Umso beeindruckender war dann später bei der Zusammenführung beider Richtungen, dass die Symptome der Heilmittelprüfung ziemlich genau den Lebensbildern der Pflanzen draußen in den Gewässern entsprachen. Als einer der wichtigsten Aspekte sei die Fähigkeit der Alge (im See) und auch des Präparates (im Menschen) zur Reinigung, Strukturierung und Klärung genannt.
Literatur zum Thema
- H.-Ch. Vahle (2017): Hepatodoron. – In: Florin, J.-M. (Hrsg.): Biologisch-dynamischer Weinbau. Neue Wege zur Regeneration der Rebenkultur. Verl. am Goetheanum, Dornach: 216-223.
- H.-Ch. Vahle (2011): Die biologisch-dynamischen Präparatepflanzen im dreigliedrigen Organismus der Hoflandschaft. – Die Drei 81 (4): 13-30.
- H.-Ch. Vahle (2012): Die Pflanzen der biodynamischen Kompostpräparate. – Lebendige Erde 63 (1): 6-7. Darmstadt.
- H.-Ch. Vahle (2012): Brennnessel und Eiche. Die Präparatepflanzen in ihren Pflanzengesellschaften. – Lebendige Erde 63 (2): 6-7. Darmstadt.
- H.-Ch. Vahle (2012): Kamille und Löwenzahn. Standorte und Bedeutung im Landwirtschaftsorganismus. – Lebendige Erde 63 (3): 6-7. Darmstadt.
- H.-Ch. Vahle (2012): Die Alge. – In: H. Brand & N. Groeger: Chara intermedia – Die reinigende Kraft der Armleuchteralge. Narayana-Verlag, Kandern: S. 14-36.
- H.-Ch. Vahle (2012): Die belebende Kraft einer Uralge: Chara intermedia. – natur & heilen 89 (7): 12-19.